Der Tiefschnee führte den jungen Schweden Jonas Rönnblad 2015 nach Engelberg. Fast zehn Jahre später ist er immer noch da. Er ist geblieben für die Liebe – und ist damit nicht der Einzige aus seinem Land.
Die Dorfstrasse in Engelberg ist leer an diesem Dezemberabend. In einem Lokal stehen die Leute dicht gedrängt. Zwölf Kinder haben sich auf eine Holztreppe in der Papeterie Roastery gestellt. Sie tragen weisse und rote Kleider, Kerzen leuchten in ihren Händen oder auf den Kränzen auf ihrem blonden Haar. Begleitet von einem Mann mit Gitarre singen sie schwedische Lieder. Vor ihnen stehen ihre Eltern, filmen, schauen gebannt zu oder singen mit.
«Wir feiern die heilige Lucia, die Licht in die dunkelste Zeit des Jahres bringt», sagt Sophia Wetterblad. Die Schwedin führt die Roastery Engelberg. Sie hat das Lucia-Fest organisiert, das in Engelberg nun zum zweiten Mal stattfindet. Das Fest gehört zu den wichtigsten in der schwedischen Kultur. Gefeiert wird es hier von der schwedischen Gemeinschaft. «Wir sind schwedische oder schwedisch-schweizerische Paare mit Kindern – eine Mischung aus Schweden und Schweiz also», sagt Wetterblad.
Dass in Engelberg ein schwedisches Fest gefeiert wird, ist kein Zufall. Denn das Bergdorf ist bei Schwedinnen und Schweden besonders beliebt. Das zeigt ein Blick auf die Tourismuszahlen der vergangenen zehn Jahre des Bundesamtes für Statistik. Bis auf das Coronajahr 2021 machten die schwedischen Touristen zwischen 3 und 4 Prozent der jährlichen Logiernächte in Engelberg aus. Das sind mehr als 10’000 Übernachtungen jedes Jahr. Keine andere Schweizer Skidestination hat einen so hohen Anteil an schwedischen Gästen. Doch warum ist Engelberg bei den Schweden so beliebt?
Schwedische Ski-Vagabunden strömen nach Engelberg
Jonas Rönnblad ist 24 Jahre alt, als er sich 2015 zum ersten Mal auf den Weg in Richtung Engelberg macht. Seit drei Jahren ist er Skilehrer im schwedischen Skigebiet Sälen nahe der norwegischen Grenze. Und er studiert Maschinenbau. Rönnblad ist begeisterter Freerider, fährt am liebsten Ski im frischen Tiefschnee abseits der Piste. Doch in Schweden sind die Bedingungen dafür nicht optimal. Zu stark bläst der Wind, zu hart ist der Schnee neben der Piste an den Skihügeln. Engelberg scheint der perfekte Ort für sein Hobby zu sein, stellt Rönnblad fest, als er Artikel und Bilder seiner Landsleute auf einem Online-Freeride-Forum entdeckt.
Glücklicherweise verbrachte ein Studiumskollege bereits Ferien in Engelberg und hat einen Bekannten, der dort arbeitet und wohnt. Nach einem Intensivstudium im Herbst können die beiden im Winter ein reduziertes Fernstudium machen – in Schweden nicht unüblich. Der Bekannte stellt den Kontakt zu einer jungen Engelbergerin her, in deren Wohnung Rönnblad und sein Kollege von Januar bis März wohnen dürfen.
Jonas Rönnblad ist einer von vielen schwedischen Skitouristen, sogenannte Ski-Bums oder Ski-Vagabunden, die den Sommer hindurch arbeiten oder studieren und im Winter mehrere Wochen oder Monate lang Skiferien machen. Die Szene ist Sanne Mona bestens bekannt. Die Schwedin ist Marketingleiterin der Ski Lodge Engelberg. Das Hotel mit Bar wurde 2008 von den beiden Schweden Eric Spongberg und Niklas Möller gegründet und kürzlich in der weltbekannten «Financial Times» in einer Liste mit Reisetipps für Skiausflügler empfohlen. Die Ski Lodge ist nicht nur der Treffpunkt für Schwedinnen und Schweden in Engelberg, sondern auch für Einheimische und andere Touristen, sei es als Schlafplatz oder für das Bier nach dem Skifahren. 30 Saisonarbeiterinnen und Saisonarbeiter aus Schweden beschäftigt das Hotel jährlich, und rund 30 Prozent aller Gäste kommen aus Schweden, im Winter sogar die Hälfte.

Sanne Mona erklärt, was den Schwedinnen und Schweden in Engelberg neben dem «besseren» Schnee gefällt: «Das Klima hier ist ähnlich, aber die Berge sind nicht vergleichbar mit den Hügeln in Schweden. Es ist alles viel extremer hier – einfach atemberaubend.» Und das spreche sich in Schweden herum. «Die meisten schwedischen Gäste erfahren von Erzählungen anderer und über die sozialen Medien von Engelberg», ist Mona überzeugt. Trotzdem sei vielen schwedischen Touristen gar nicht bewusst, wie beliebt die Destination im Heimatland ist. «Immer wieder sind unsere Gäste überrascht, dass sie zwar im Ausland sind, aber trotzdem verstanden werden, wenn sie Schwedisch sprechen», so Mona.
Die Schweden nehmen die weite Reise in die Zentralschweiz auf sich, obwohl sie im eigenen Land auch Skigebiete hätten. Doch im weitläufigen Schweden seien diese für viele nicht – oder nur unwesentlich – schneller erreichbar, sagt Mona. Dazu schätze man die gute ÖV-Verbindung zwischen Engelberg und dem Flughafen Zürich. Wann Engelberg in Schweden derart beliebt wurde, sei schwierig zu beantworten, sagt Sanne Mona. Sie nennt einige schwedische Fotografen, deren Freeride-Bilder aus Engelberg um die Jahrtausendwende in Schweden bekannt wurden und um die Welt gingen. Ein Name, der auch in anderen Gesprächen immer wieder auftaucht, ist Oskar Enander. Ist er der Ursprung des Schwedenbooms in Engelberg?

«Ich war nicht der erste Schwede hier in Engelberg», sagt Enander. Vor 22 Jahren kam der Fotograf spontan mit seinen Freunden nach Engelberg, weil im Tiroler Skigebiet St. Anton Campingwagen nicht erwünscht gewesen seien. «Wir kannten Engelberg noch nicht, es war eher Zufall – wir wollten einfach freeriden.» Enander fotografierte für Magazine auf der ganzen Welt. «Meine Bilder waren sicher ein Grund, warum anschliessend so viele schwedische Freerider nach Engelberg reisten», sagt Enander. Heutzutage teilt er oder andere viele seiner Bilder in den sozialen Medien. «Ich höre von vielen Schweden, dass sie aufgrund dieser Bilder in Engelberg sind.» Es war der Zufall, der Enander nach Engelberg brachte – heute wohnt er immer noch dort. Wie Jonas Rönnblad.
Aus dem Ferienort wird die neue Heimat
Nach den drei Monaten im Tiefschnee des Titlis-Gebiets und den Bars des Dorfes geht es für Rönnblad 2015 wie für die meisten schwedischen Ski-Bums zurück nach Schweden. Der Abschied schmerzt. Denn Rönnblad hat sich verliebt. In den Schnee und die Berge? Auch. Aber vor allem in Nadine Bleyer, eine Freundin der Engelbergerin, bei der er während der drei Monate wohnte. «Da hat es gefunkt», sagt Jonas Rönnblad heute. So sehr, dass die beiden in Kontakt bleiben.
Sie verbringt einen Winter in Schweden, er den Sommer wieder in Engelberg. Rönnblad schliesst 2017 sein Studium ab. «Noch am selben Tag setzten wir uns ins Auto nach Engelberg», sagt er. Denn für die beiden war klar, dass er in die Schweiz zieht. Nicht nur, weil Bleyers Familie ein Geschäft in der Engelberger Dorfstrasse besitzt. Auch für Rönnblad ergibt ein Umzug Sinn. «Skifahren und Biken sind meine grössten Hobbys. Die kann ich nirgends besser ausüben als in Engelberg», sagt er.
Dass Jonas Rönnblad nicht der einzige Schwede ist, der in Engelberg seine neue Heimat gefunden hat, zeigt sich auch statistisch. Von 2009 bis 2022 hat sich die Zahl der angemeldeten Schweden in Engelberg mehr als verdoppelt, von 47 auf 119, wie die Einwohnerstatistik der Gemeinde zeigt. 2022 waren 2,7 Prozent der gesamthaft 4500 Einwohnerinnen und Einwohner Schweden. Nur Schweizer, Deutsche und Portugiesen gibt es in Engelberg noch mehr. Am Stichtag, dem 31. Dezember, wohnten auch 2023 mehr als 110 Schweden in Engelberg. 90 davon sind Niedergelassene oder Aufenthalter, der Rest Kurzaufenthalter. Engelberg ist bei den Schwedinnen und Schweden also längst nicht mehr nur als Ferienort beliebt.

Dass in seiner neuen Heimat schon eine schwedische Community besteht, hilft Jonas Rönnblad zu Beginn nur bedingt. «Ich suchte den Kontakt zu den Einheimischen, wollte möglichst schnell die Sprache lernen und mich integrieren», sagt er. Im lokalen Fussballclub findet er rasch Anschluss und Freunde. «Ich lernte, dass man in der Schweiz zuerst anstossen muss, bevor man den ersten Schluck Bier trinkt.» Darüber hinaus stellt Rönnblad aber fest, dass sich die Mentalitäten der Schweizer und der Schweden stark ähneln, was bei der Integration hilft. Trotzdem beginnt für Rönnblad eine herausfordernde Zeit.
Die Suche nach einer Arbeitsstelle in seinem Berufsfeld gestaltet sich aufgrund der noch nicht vorhandenen Deutschkenntnisse schwierig. «Ich erhielt oft nicht einmal eine Antwort. Das war frustrierend, und ich stand kurz davor, nach Schweden zurückzukehren.» Er tut es nicht, kündigt seine Saisonstelle und investiert die gesamte Zeit in die Jobsuche – mit Erfolg. Er findet eine Stelle als Maschinenbauer in Stans.

2020 kommt Moa zur Welt, zwei Jahre später komplettiert Tilda die vierköpfige Familie. Zum Freeriden kommt Jonas Rönnblad dadurch immer seltener. «Mein Leben hat sich verändert, aber das ist auch gut so. Ich bin ein Schönwetterskifahrer geworden.» Dass seine Töchter umgeben von Bergen und trotzdem so nahe an Städten mit Arbeitsplätzen und Freizeitangeboten aufwachsen, schätzt der Schwede. «Ich beneide sie darum», sagt er. Moa und Tilda Rönnblad sind nicht die einzigen Kinder von schwedischen Eltern oder einem schwedischen Elternteil in Engelberg. «Es entsteht eine neue Generation», sagt Jonas Rönnblad, der heute wieder mehr den Kontakt zu der schwedischen Community sucht. «Es tut meinen Töchtern gut, wenn sie Schwedisch nicht nur von mir hören.»
In Zukunft möchte die Gemeinschaft ihren Kindern auch Schwedischschreiben beibringen. Und weitere Traditionen mitgeben. Das Lucia-Fest, das am 13. Dezember gefeiert wird, ist eine davon. In einem Jahr werden auch Tilda und Moa Rönnblad neben den anderen Kindern der schwedischen Community in der Roastery Engelberg stehen und in Gedenken an die heilige Lucia schwedische Lieder singen.
«Die Schweden wollen Teil der Gesellschaft werden»
Was sagt die Politik in Engelberg zu dem wachsenden schwedischen Teil der Bevölkerung? Alex Höchli ist seit 2011 im Gemeinderat und seit 2016 Talammann von Engelberg.
Warum ist Engelberg bei den Schweden so beliebt?
Alex Höchli: Man spürt schon, dass die Schweden totale Skifans sind, die sich gerne in unserer Natur bewegen. Die Beliebtheit ist aber nicht nur auf das Freeriden zurückzuführen, sondern auch auf unsere zuverlässige und gastfreundliche Art, die man den Schweden zurecht ebenfalls nachsagt. Die Mentalitäten der Schweizer und der Schweden sind sehr ähnlich.

In den vergangenen Jahren liessen sich immer mehr Schweden hier nieder.
Das freut mich sehr. In Engelberg haben wir den Slogan «Leben, wo andere Ferien machen». Das haben einige wörtlich genommen. Diejenigen, die hierbleiben, wissen aber, dass man dafür auch arbeiten muss. Ein Beispiel ist etwa die Ski Lodge oder die Papeterie Roastery.
Sie waren Besitzer der Papeterie und Buchhandlung und führten diese jahrelang. Seit 2015 wird sie von den schwedischen Geschwistern Oscar und Sophia Wetterblad – ergänzt mit einer Rösterei – betrieben. Wie sind Sie zufrieden mit der Entwicklung?
Die Roastery-Papeterie-Buchhandlung ist ein gutes Beispiel dafür, wie die Schweden ihre Geschäftsideen respektvoll und originell in unser Tal einbauen. Sie haben sich auch mit der Geschichte des Unternehmens befasst. Ich habe riesige Freude an der Entwicklung des Lokals.
Die Schweden sind mittlerweile in Engelberg eine grosse Gruppe. Wie funktioniert das Zusammenleben?
Sie sind ein Teil der Engelberger Gesamtgesellschaft. Ich würde da auch gar nicht von einer eigenen Community reden. Ohne beschönigen zu wollen, nehme ich viele gute Charakterzüge wahr. So sind die Schweden oft gut gelaunte und offene Menschen. Das ist ansteckend und tut uns allen gut. Auch die Integration funktioniert bestens und aus eigenem Antrieb ohne Programm des Staats. Man merkt: Sie wollen ein Teil der Gesellschaft werden. Auch an der Talgemeinde nehmen niedergelassene Schweden teil.
Trotzdem muss es doch sicher auch kritische Stimmen aus der Bevölkerung geben.
Vor einigen Jahren hat man schon mit Sorge ins Laub (beliebte Freeride-Abfahrt am Titlis, Anm. d. Red.) hochgeschaut. Die Schweden gingen für ihre Faszination für den Tiefschnee grosse Risiken ein. Dabei wurde ihnen ein gewisses rücksichtsloses Verhalten gegenüber den Rettungskräften vorgeworfen. Vielleicht ist das teilweise auch heute noch so. Aber mein Eindruck ist, dass da ein Lernprozess stattgefunden hat. Über die Jahre haben die Schweden den Berg auch besser kennen gelernt.