Drücke "Enter", um den Text zu überspringen.

Aus der Zeit gefallen? 97 Prozent bleiben der Gemeindeversammlung fern: Das macht man in Stansstad stattdessen

Wenn die Gemeinden im Kanton Nidwalden zur Gemeindeversammlung einladen, erscheinen nur die wenigsten Stimmberechtigten. Eine Reportage in Stansstad soll helfen, die vielen Absenzen zu erklären.

Die 82 Bürgerinnen und Bürger heben die Hand und genehmigen damit die Rechnung 2022 der politischen Gemeinde Stansstad. Die Anwesenden machen keine 3 Prozent der Stimmbevölkerung aus, entscheiden aber im Namen aller rund 3350 stimmberechtigten Stansstaderinnen und Stansstader. «Die Teilnahme an der Gemeindeversammlung ist Bürgerpflicht», heisst es im Kantonsgesetz. Wo sind alle Anderen geblieben?

Der General-Guisan-Quais in Stansstad ist auch während der Gemeindeversammlung beliebt.
Der General-Guisan-Quais in Stansstad ist auch während der Gemeindeversammlung beliebt. Bilder: Manuel Kaufmann (Stansstad, 1. 6. 2023)

Es ist ein milder Sommerabend, an dem die Leute das Haus bedenkenlos ohne Jacke verlassen. Rund 20 Leute haben sich an das Ufer des Vierwaldstättersees gesetzt, wärmen ihre nackten Unterarme und dösen an der Abendsonne. Die meisten geniessen, statt zu sprechen. Marcel Fanger hat sich ganz vorne auf die Steintreppe des General-Guisan-Quais in Stansstad hingesetzt.

Marcel Fanger hat noch nie an einer Gemeindeversammlung teilgenommen.
Marcel Fanger hat noch nie an einer Gemeindeversammlung teilgenommen.

«Bei diesem Wetter draussen zu sein, ist für mich keine Frage», sagt er. Auf die Frage, ob er wisse, dass rund 100 Meter entfernt im Gemeindesaal die Frühlingsgemeindeversammlung stattfindet, schüttelt der 68-Jährige den Kopf. Er wäre aber auch nicht gegangen, wenn er es gewusst hätte. «Ich habe noch nie an einer Gemeindeversammlung teilgenommen», sagt der seit 13 Jahren in Stansstad wohnhafte Obwaldner. «Das Ganze bringt gar nichts – sie machen ja eh, was sie wollen», sagt er. Dies sei auch der Grund, warum er noch nie an einer Abstimmung teilgenommen oder gewählt habe.

Nicht alle denken so. Denn soll ein Geschäft in der Bevölkerung breit abgestützt sein, wird es oft von den Gemeinderäten im Kanton Nidwalden an die Urne gebracht. In Stansstad geschah dies etwa im September vergangenen Jahres, als die Bevölkerung einen Kredit von 5,42 Millionen Franken für die Neugestaltung des Stansstader Dorfzentrums guthiess. Mit fast 54 Prozent der Stimmberechtigten, die ihren Stimmzettel einreichten, wurden so deutlich mehr Leute erreicht als an der Gemeindeversammlung.

«Ich bin Programmierer, kein Politiker»

Während die Versammlung läuft, nehmen die Wolken im Himmel langsam überhand. Mit der Sonne verabschieden sich auch viele Leute aus dem Freien. Im Pärkli beim Bootshafen lassen sich zwei Hunde aber nicht vom Spielen abhalten. Vom Bänkli aus beobachten Marcel Niklaus und Hermine Jäggi ihr Treiben.

Marcel Niklaus und Hermine Jäggi geniessen die Zeit draussen, statt im Gemeindesaal zu politisieren.
Marcel Niklaus und Hermine Jäggi geniessen die Zeit draussen, statt im Gemeindesaal zu politisieren.

Er wisse, dass die Gemeindeversammlung heute stattfindet, sagt Niklaus. Als Applikationsentwickler der Gemeindesoftware wisse er auch, wie die Zahlen in Stansstad aussähen. An den Versammlungen nehme er aber nie teil. «Ich bin Programmierer, kein Politiker.» Niklaus arbeitet in seiner Wohnung und geht abends an den See. «Was willst du im Sommer mehr?» Politisch müsse sich aus seiner Sicht nichts ändern in Stansstad. Und wenn sich etwas ändern müsste, würde er trotzdem nicht an der Gemeindeversammlung auf- und für seine Meinung einstehen. Als einzelner Bürger ohne Verein oder Partei im Rücken sähe er dabei nur geringe Erfolgschancen. «Da musst du den Winkelried spielen.» Hermine Jäggi pflichtet ihm bei. Da sie nicht in Stansstad wohnt, «hat sich das Problem eh erledigt». Als sie erfährt, dass nur rund drei Prozent aller Stimmberechtigten an der Versammlung sind, winkt sie ab. «Abschaffen», sagt sie.

Ganz alleine steht Hermine Jäggi mit ihrer Meinung damit nicht da. Bereits 2009 lancierte die SP Nidwalden eine Initiative, die genau dies forderte. Statt einer Gemeindeversammlung hätten alle Wahl- und Sachgeschäfte an der Urne entschieden werden sollen. Zudem hätten die Gemeinden ein Parlament einsetzen können, deren Entscheide durch die Bevölkerung an die Urne hätte verwiesen werden können. 5 Prozent Stimmbeteiligung im kantonalen Schnitt seien «einer glaubhaften Demokratie unwürdig», sagte Parteipräsident Beat Ettlin damals. Die aktuellen Zahlen zeigen, dass die Stimmbeteiligung in den 14 Jahren nicht zugenommen hat.

An den Gemeindeversammlung nahmen in Stansstad in den vergangenen zehn Jahren auch bei Ausreissern nach oben nie mehr als rund 7 Prozent der Stimmberechtigten teil. In der Tendenz nimmt die Stimmbeteiligung leicht ab. Im Kantonalen Durchschnitt lag die Stimmbeteiligung an Frühlingsgemeindeversammlungen dieses Jahr ziemlich genau bei 5 Prozent.

https://datawrapper.dwcdn.net/4KNtS/2/

Ist die Versammlung noch zeitgemäss?

Die tiefe Stimmbeteiligung an den Gemeindeversammlungen beunruhigt auch die GLP. Im Rahmen der neuen Stansstader Gemeindeordnung, die aktuell erarbeitet wird, plädieren die Grünliberalen dafür, dass sämtliche Abstimmungen und Wahlen getrennt von der Gemeindeversammlung an der Urne stattfinden. «Die Gemeindeversammlung ist heute einfach nicht mehr zeitgemäss», sagt Denise Weger, Co-Präsidentin der GLP Nidwalden, auf Anfrage. Ganz für die Abschaffung sei man aber nicht. «Die Versammlung ist wichtig für die Vernetzung und das Informieren der Bürgerinnen und Bürger», so Weger. Für Abstimmungen und Wahlen sei die Stimmbeteiligung aber zu tief.

Denise Weger, Co-Präsidentin der GLP Nidwalden.
Denise Weger, Co-Präsidentin der GLP Nidwalden.Bild: Pius Amrein (19. 8. 2021)

Die GLP möchte auch prüfen, inwiefern sich eine virtuelle Gemeindeversammlung realisieren liesse. «Es gäbe genügend Tools heutzutage, die man dafür nutzen könnte», sagt Weger. So könnte man versuchen, mehr Junge für eine Teilnahme zu begeistern und wäre zudem vorbereitet auf Fälle wie während der Pandemie, als Versammlungsverbot galt. Schliesslich sei es auch nicht allen Bürgerinnen und Bürgern möglich, an einem Donnerstagabend physisch an der Gemeindeversammlung teilzunehmen.

So etwa Herr und Frau Odermatt, die nicht mit Vornamen genannt werden möchten. Auf dem Schulhausplatz geniessen sie die Zeit mit ihren kleinen Kindern, die gerade mit ihren Trottis einen Slalom fahren. Sie hatten die Gemeindeversammlung nicht auf dem Radar, geben die beiden zu. «An einer Gemeindeversammlung habe ich erst einmal teilgenommen, da mich das Thema persönlich betraf», sagt Odermatt. Ansonsten sei der Sinn und Zweck fraglich. «Ich würde wohl gehen, wenn ich wüsste, dass ich konkret Einfluss nehmen könnte», sagt er. Am Interesse fehle es den beiden nicht, an der Urne stimmen sie immer ab. Dies sei aber auch einfacher. «Man müsste sich für die Gemeindeversammlung extra einen Abend freischaufeln und schauen, dass jemand auf die Kinder schaut – dafür hat doch heute niemand mehr Zeit», sagt sie.

Diese Möglichkeiten haben die Gemeinden in Nidwalden

Für eine Abschaffung der Gemeindeversammlung wäre eine Änderung der Kantonsverfassung nötig. Diese schreibt vor, dass die Gemeindeversammlung mindestens zweimal jährlich stattfinden muss. «Allerdings haben die Gemeinden einen grossen Spielraum, indem sie in der Gemeindeordnung Geschäfte bestimmen können, die zwingend der Urnenabstimmung zu unterbreiten sind», schreibt Landschreiber Armin Eberli auf Anfrage. Bestimmte Geschäfte müssen aber wiederum vor der Urnenabstimmung an der Gemeindeversammlung bereinigt werden. Bei Einbürgerungsgesuchen habe man ausserdem gesetzlich keinen Handlungsspielraum. Diesbezüglich ist eine Urnenabstimmung bundesrechtlich unzulässig, so Eberli.

Welche Optionen haben die Gemeinden also? Politische Gemeinden können im Kanton Nidwalden laut Gesetz die ausserordentliche Organisation einführen. Somit könnten alle Gemeinden eine ausserordentliche Organisation und damit einen Einwohnerrat (Gemeindeparlament) einführen. Neben dem Gemeinderat (Exekutive) hätte die Gemeinde dann wie etwa der Kanton ein vom Stimmvolk gewähltes Parlament (Legislative), dessen Entscheide mittels Referendum an die Urne gebracht werden könnten. Voraussetzung dafür ist, dass die Schulgemeinde aufgehoben und deren Aufgaben und Befugnisse durch die politische Gemeinde übernommen worden sind. Einzig Stansstad und Oberdorf kennen im Kanton Nidwalden noch die Schulgemeinde. Stimmen die Bevölkerungen den neuen Gemeindeordnungen zu, sind diese aber in beiden Gemeinden ab 2025 Geschichte.

Weder Gemeindeversammlung noch Gemeindeparlament kennt etwa die Luzerner Gemeinde Malters. Alle Geschäfte, die nicht vom Gemeinderat behandelt werden können, kommen dort an die Urne. Zusätzlich hat die Gemeinde Malters eine Bürgerrechtskommission eingeführt, die im Namen der Bevölkerung über Einbürgerungsgesuche entscheidet.

Institution wird wohl weiterleben

Die Abschaffung der Gemeindeversammlung ist in Stansstad kein Thema, heisst es auf Anfrage bei der Gemeinde. Schul- und Gemeinderat schätzen den Stellenwert der Gemeindeversammlung. Würden Abstimmungen und Wahlen nur noch an der Urne behandelt, hätte dies eine erhebliche Schwächung der Gemeindeversammlung zur Folge und ein wesentlicher Teil des direkten Austauschs mit der Bevölkerung ginge verloren, heisst es weiter. Die Idee einer virtuellen Gemeindeversammlung findet die Gemeinde interessant. Zum heutigen Zeitpunkt sei diese jedoch nicht umsetzbar, da die Anwesenheit, die Stimmberechtigung sowie auch die Abstimmungsergebnisse nicht kontrollierbar wären, schreibt die Gemeinde.

Generell scheint die Abschaffung der Versammlung bei den Gemeinden kein Thema zu sein. An der Konferenz der Gemeindepräsidenten (GPK) sei das Thema während ihrer Amtszeit (seit September 2022) jedenfalls nie behandelt worden, scheibt Judith Odermatt, Präsidentin der GPK und der Gemeinde Oberdorf, auf Anfrage.

Teilen Sie diesen Beitrag: